Mauerpark

Der Himmel über dem Mauerpark schimmerte im äußersten Nordwesten noch leicht blassrot und die ersten Sterne kämpften sich durch das blaue Abendlicht. Über dem Wedding hing ein halber Mond.

Gerd lag auf einer kleinen Decke im hohen Gras. Das Gelände war abschüssig, sodass er ständig weiter nach unten rutschte.

Schwerer Graffitigeruch erfüllte die schwül-heiße Luft. In einiger Entfernung, auf der großen Wiese, dem ehemaligen Todesstreifen, dem Niemandsland zwischen Ost und West, stieg  der Rauch unzähliger Grills in die Höhe und bildete eine riesige, nebelartige Wolke. Wo einst Wachtürme und Stacheldraht die Szenerie beherrschten, wurde nun gefeiert. Über den Eisernen Vorhang war Gras gewachsen. Mühsam richtete Gerd sich auf und schaute in Richtung Fernsehturm.

Menschenskinder, dachte er, warum bin ich denn nicht in Urlaub gefahren, an den Atlantik zum Beispiel oder wenigstens an die Ostsee. Naja, dachte er weiter, immerhin bin ich nicht der Einzige, der noch hier ist und immerhin bin ich wenigstens in Berlin. Die anderen Mieter in seiner Weddinger Umgebung fuhren nie in Urlaub und sie schienen dies gar nicht so sehr zu vermissen. Zumindest wirkten sie immer recht fröhlich und ausgeglichen, wenn Gerd ihnen im Treppenhaus begegnete, selbst im Hochsommer. Da war es ja auch in Berlin angenehm warm und Gerd kam zu dem vorläufigen Schluss, dass es an sich keinen Grund gab, sich über den Berliner Sommer zu beklagen. Wenn man dann noch in Betracht zog, dass Berlin geografisch gesehen in der Norddeutschen Tiefebene lag und a priori dort überhaupt kein gutes Wetter zu erwarten war, so musste man selbstverständlich jeden Sonnentag als Geschenk des Himmels ansehen.

Gerd stand auf, rollte seine Decke zusammen und klemmte sie auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Er glitt den Abhang hinunter und ließ sich direkt in den Grillnebel hinein rollen. Er radelte an den Boulespielern vorbei, auch sie waren nie im Urlaub, vorbei an den Alkoholikern, die ihre Bierkästen immer mit einem Fahrradschloss an der Parkbank festketteten, vorbei an dem türkischen Eisverkäufer mit Bart, vorbei an dem demolierten Kinderspielplatz, vorbei an Getränke Hoffmann, vorbei an den Südamerikanern, die hier jeden Abend grillten, vorbei an den Freunden des Mauerparks mit ihrer Folkloremusik und ihrem Tanz, vorbei an den Drogendealern, die ihn seit Jahren eisern ignorierten, vorbei an den ambitionierten Pfandsammlern, die gerade ihre 4000 Pfandflaschen in verbeulte Einkaufswagen und zerschlissene Koffer verfrachteten, und er erreichte schließlich den Falkplatz. Gerd wollte gerade seine Picknickdecke unter einem Ahornbaum ausbreiten, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.

„Hallo Gerd“, sagte Holger.
„Menschenskinder, Holger“, rief Gerd überrascht. „Ich dachte, du wärst schon längst an der Ostsee.“
„Mir steckt doch immer noch die Malaria in den Knochen“, erklärte Holger. „Ich habe ständig Krämpfe und Fieber, da bleibe ich lieber in Berlin, in der Nähe der guten Ärzte.“
„Verstehe“, murmelte Gerd und ihm fiel wieder ein, dass Holger ja erst seit einigen Tagen aus Indonesien zurück war.
„Ich sehne mich gerade extrem nach Urlaub“, sagte Gerd etwas nachdrücklicher, „vielleicht liegt es daran, dass ich mich über jeden wundere, der noch hier in Berlin weilt.“
„Dann fahr‘ doch einfach los“, schlug Holger vor.

„Das ist leichter gesagt als getan“, entgegnete Gerd resigniert. „Ich musste vergangene Woche neue Schallplatten für den Flohmarkt besorgen, das ist ja schließlich meine Existenz, und jetzt habe ich keinen Cent übrig. Ich käme nicht einmal mehr bis nach Mecklenburg, geschweige denn bis an die Ostsee. Ein BVG-Ticket wäre vielleicht gerade noch drin, aber dann…“, nachdenklich ließ Gerd seinen Satz abreißen.

„Es kommen bestimmt auch wieder bessere Zeiten“, versuchte Holger seinen Freund Gerd aufzumuntern. Holger verkaufte seinerseits Frauenkleidung auf demselben Flohmarkt im Mauerpark und er schlug sich damit wesentlich besser durch als Gerd mit seinen Schallplatten. So kam es Gerd zumindest immer vor.

„Und jetzt?“, fragte Gerd ratlos.
„Mach‘ es doch einfach wie deine Eltern“, schlug Holger vor. „Die fahren nie in Urlaub und sind die glücklichsten Leute, die ich kenne. Sie sitzen rund um die Uhr vor ihrem Haus in Bingen-Büdesheim und es fehlt ihnen an nichts. Ich glaube, wenn du denen eine Reise schenkst, können die damit gar nichts anfangen.“

„Mmh“, murmelte Gerd nachdenklich, „wenn man einmal gesehen hat, wie schön es am Meer ist und in den Bergen, dann muss man einfach immer wieder dorthin. Ich glaube, das ist wie mit Alkohol oder mit Sex: Gar nichts ist einfacher als wenig.“

„Deine Eltern waren doch auch schon mal am Meer. Und in den Bergen. Das lässt sie aber völlig kalt. Die wissen damit souverän umzugehen.“

„Die haben es gut“, sagte Gerd aufrichtig und seufzte. Er hätte jetzt gerne nicht in seiner Haut gesteckt. Wehmütig dachte er zurück an seine Kindheit. Da war die Welt noch in Ordnung. Weitestgehend zumindest. Zumindest in der Rückschau. Bingen-Büdesheim, dachte er, welch ein Idyll!

„Lass‘ uns doch in den Prinzessinnengarten fahren!“, schlug Holger vor. „Ich glaube, Marc hat heute Abend Theke.“
„Gute Idee“, sagte Gerd noch etwas gequält. „Vielleicht komme ich mal auf andere Gedanken, wenn ich ein paar Kreuzberger Gesichter sehe.“

Und dann radelten sie durch die Berliner Sommernacht, die Schönhauser Allee hinunter, über den Rosa-Luxemburg-Platz hinweg, über den Alex, über die Jannowitzbrücke und die Heinrich-Heine-Straße hinunter bis zum Moritzplatz.

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